Drei Tage vor dem Italien Spiel reifte in uns der Gedanke, dass wir ab jetzt bei der EM dabei sein sollten. Selbstverständlich völlig unvorbereitet, also ohne Tickets, Unterkunft und Plan trieben wir eine Mitfahrgelegenheit auf und brummten freitags gen Bordeaux, Flug- oder Zugpreise waren da schon jenseits unseres Reisebudgets. Für 70 Euro pro Mann von Münster nach Bordeaux. Fair. Und 14 Stunden (Fahrt-)Zeit um die konkrete Planung voranzutreiben. Parallel reiste der Rest der Crew mit dem Wohnmobil aus Lille an, die Jungs waren bereits seit zwei Wochen auf Tour und wir waren gespannt auf ihre Geschichten.
Perfekte Voraussetzungen: Kein Zelt, kein Hotel, keine Tickets
Schöner Nebeneffekt unserer Anreise als Mitfahrer war, dass sich schon während der Fahrt unser Ticketproblem aufzulösen schien, da unser Fahrer noch einen Brasilien-Legionär mit zwei Karten kannte – zwar war das noch nicht 100% sicher, aber wenn der erste den man trifft bereits Tickets organisieren kann, muss man ja nur mal hochrechnen. Lief also. Jetzt mussten wir nur noch eine Unterkunft klar machen, was sich aber als schwierig herausstellte. Ganz Bordeaux war komplett ausgebucht – also zumindest wer nicht 1.000 € pro Nacht blechen wollte. Nach stundenlanger Suche rutschten wohl durch Stornierungen ein paar Angebote nach und wir hatten zumindest für die erste Nacht eine Bleibe. Wir schauten noch das Spiel Wales vs. Belgien zu Ende und stürzten uns ins Nachtleben.
Im schönen Zentrum von Bordeaux dominierten die Fans aus Deutschland. In den Kneipen und auf den Straßen sah man viele weiße Trikots und schwarz-rot-goldene Flaggen. Wir trafen die Wohnmobil-Crew und gönnten unseren durstigen Kehlen das erste 6-Euro Bier. Dann machten wir das, was man bei einem großen Fußballturnier zur Völkerverständigung machen muss: Wir grölten lautstark die Hymne des Gastgeberlandes, sangen mit Franzosen, Belgiern und Iren Klassiker von Edith Piaf (Non, je ne regrette rien) und probierten den einen oder anderen Kanon (Sur le pont d’Avignon) anzustimmen. Textsicherheit und Sprachkenntnisse ließen natürlich zu wünschen übrig, aber im Stadion besteht unser Gesang meist auch nur aus einer Aneinanderreihung von Vokalen. Beim Humba hauten wir dann alles raus, was vom Schulfranzösisch auf der Festplatte noch zu finden war: „Gebt mir ein ‚Accent circonflexe‘“ und „Gebt mir ein ‚Accent grave‘“. Um uns rum: fragende Gesichter. Um drei waren dann alle Läden zu und wir machten uns auf den Weg zum Hotel.
Warmmachen am Spieltag
Der Spieltag begann mit einem Umzug in ein neues Hotel. Die 5m² Gefängniszelle kostete schlappe 150 €. Danach gönnten wir uns gegen Mittag erst einmal ein kühles Bier für 7,50 € ehe wir den Kollegen des Kollegen mit den Tickets trafen und die begehrten Karten endlich unser Eigen nenne konnten – jetzt konnte man richtig entspannt den Nachmittag angehen. Essen, Trinken und ein wenig das Treiben auf den Straßen beobachten. Vom Zentrum Bordeaux ging der sogenannte Fanmarsch zum Stadion. Wir entschieden uns zum Zeltplatz der Camping-Crew in Stadionnähe zu fahren und uns dort ein wenig warm zu singen. Die gemütliche Runde hatte den entscheidenden Vorteil, dass wir mit alkoholhaltigem Gerstensaft ausgestattet waren. In den Stadien werden üblicherweise nur Zero-Biere ausgeschenkt – die rechnen wohl mit vielen Autofahrern. Eine gute Stunde vor Anpfiff machten wir uns auf den Weg zum Stade de Bordeaux.
Elfmeterkrimi beendet den Italienfluch
Die laschen Sicherheitskontrollen hatten wir schnell überwunden, sodass wir 30 Minuten vor Anpfiff das Stadiongelände erreichten. Das von außen (und innen) sehr ansehnliches Stadion mussten wir einmal umrunden um gerade so rechtzeitig zu den Hymnen unsere Plätze im Oberrang einnehmen zu können. Die Stimmung war sehr gut, die deutschen Fans zeigten zu Beginn, wie bei bisher jedem Spiel, eine ganz schicke Choreographie. Zahlenmäßig waren im Stadion natürlich die Deutschen mit geschätzten 10.000 bis 15.000 Fans stark in der Überzahl. Und woher ein großer Teil der etwa 3.000 Blauen im Italien-Block kam, wurde nach dem 1 zu 1 Ausgleichstreffer auch geklärt, als diese sich mit „Deutschland wir hören nichts“ direkt an uns wandten.
Das Spiel an sich war aus unserer Sicht unglaublich dominant, sodass wir schon von Beginn an sehr zuversichtlich waren. Nachdem die Chance auf das 2 zu 0 vergeben wurde, und Italien den Ausgleich schaffte änderte sich das schnell. Typisch wäre es doch für Italien gewesen, irgendwie noch den Siegtreffer unverdient zu erzielen. Das passierte nicht und so kamen wir ins Elfmeterschießen. Ein Krimi. Da das Elfmeterschießen auf der italienischen Seite stattfand stürmten viele Fans die Tribüne in Richtung des anderen Tores. Wir überlegten kurz, entschieden uns aber in der deutschen Kurve auszuharren. Der Elfer von Schweini schauten sich viele schon gar nicht mehr an, aus Nervosität. Es war unfassbar spannend und das Gefühl, dass Sieg und Niederlage so nah beieinander lagen, elektrisierte extrem. Mit dem entscheidenden Treffer von Hector entlud sich diese ganze Spannung in Extase. Kurze Zeit später pure Erschöpfung. Es war auch für uns Fans ein harter Kampf auf den Tribünen. Die Italiener in unserer Umgebung waren schnell verschwunden, wir genossen noch eine Weile den Triumph im und um das Stadion. Anschließend gingen wir noch bis um 4 Uhr auf den nahen Camping-Platz zu einer ausgelassenen, sehr rheinländisch geprägten Siegesfeier. Apropos Rheinland. Während in der Ukraine auffällig viele Bielefelder unsere Wege kreuzten sind hier die Kölner in Überzahl.